Bundesgerichtshof Entscheidungen

Übergabe von Unterlagen ohne weitere Hinweise reicht zur Erfüllung bestehender Aufklärungspflichten des Verkäufers beim Immobilienkauf oft nicht aus - V ZR 245/10 -


Der unter anderem für das Immobilienrecht zuständige V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im November 2011 folgende Entscheidung verkündet:

BGB § 280 Abs. 1 Satz 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1

Mit der Übergabe von Unterlagen erfüllt ein Verkäufer seine Aufklärungspflicht nur dann, wenn er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer die Unterlagen nicht nur zum Zwecke allgemeiner Information, sondern unter einem bestimmten Gesichtspunkt gezielt durchsehen wird.


Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 22. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 11. November 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen


Sachverhalt (Tatbestand):

Die Klägerin kaufte mit notariellem Vertrag vom 29. Dezember 2005 unter Ausschluss der Gewährleistung von der Beklagten zu 1 das 759 qm große Hausgrundstück, Flurstück 275, in D. zum Kaufpreis von 330.000 €. Die Verkaufsverhandlungen wurden von dem Beklagten zu 2, dem geschiedenen Ehemann der Beklagten zu 1, geführt, der die Hälfte des Verkaufserlöses erhalten sollte. Das Grundstück ist mit einem massiven Holzzaun eingefriedet. In die Einfriedung einbezogen ist ein 185 qm großer Grundstückteil des Nachbargrundstücks (Fl.-Nr. 274). Für den unbefangenen Betrachter scheint diese Teilfläche aufgrund ihrer gärtnerischen Gestaltung, aufgrund der Einfriedung und des darin befindlichen vier Meter breiten Eingangstores und der Einfahrt dem Anwesen als Vorgarten zuzugehören.


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Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz wegen unterlassener Aufklärung über die Eigentumsverhältnisse an dem Vorgartenbereich des Kaufobjekts.

Das Landgericht hat die Beklagten zur Zahlung von 60.000 € verurteilt und festgestellt, dass diese, falls der Eigentümer des Nachbargrundstücks den Rückbau des Vorgartens verlangt, verpflichtet sind, die erforderlichen Rückbaukosten zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen.

Mit der von dem Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagten beantragen, verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter.


Entscheidungsgründe:

I. Das Berufungsgericht verneint einen Schadensersatzanspruch der Klägerin aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen. Zwar hätten die Beklagten vor Abschluss des Kaufvertrages über die von der Einfriedung abweichende Grundstücksgrenze aufklären müssen. Im Sachbereich der §§ 434 ff. BGB seien Ansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen wegen des Vorrangs der kaufrechtlichen Regelungen aber grundsätzlich ausgeschlossen. Eine Ausnahme gelte lediglich bei arglistigem Verhalten des Verkäufers. Ein solches Verhalten könne nicht festgestellt werden. Denn die Klägerin habe nicht ausschließen können, dass sich in einem ihr von dem Beklagten zu 2 im Vorfeld des Kaufvertragsabschlusses übergebenen Ordner Lagepläne des Grundstücks befunden haben. Jedenfalls aus einem dieser Lagepläne habe sich der Grenzverlauf des Grundstücks mit hinreichender Deutlichkeit ergeben.


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II. Die Beklagte zu 1 war trotz rechtzeitiger Bekanntmachung im Verhandlungstermin nicht vertreten. Deshalb ist insoweit über den Revisionsantrag der Klägerin durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Das Urteil beruht jedoch inhaltlich nicht auf einer Säumnisfolge, sondern auf einer Sachprüfung (vgl. Senat, Urteil vom 4. April 1962 – V ZR 110/60, BGHZ 37, 79, 82).


Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Verneinung eines Schadensersatzanspruchs der Klägerin aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen (§ 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, 241 Abs. 2 BGB) hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.


1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Beklagten verpflichtet waren, die Klägerin vor Abschluss des Kaufvertrages darüber aufzuklären, dass der Gartenzaun und das darin befindliche Eingangstor im Vorgartenbereich – wie die Beklagten wussten – fremden Grund und Boden einschloss und sich das zu verkaufende Grundstück im dortigen Bereich nicht bis an die Grundstückseinfriedung erstreckt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht auch bei Vertragsverhandlungen, in denen die Parteien entgegengesetzte Interessen verfolgen, für jeden Vertragspartner die Pflicht, den anderen Teil über solche Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des anderen vereiteln können und daher für den Entschluss eines verständigen Käufers von wesentlicher Bedeutung sind, sofern er eine Mitteilung nach der Verkehrsauffassung erwarten kann (vgl. nur Senat, Urteil vom 15. Juli 2011 – V ZR 171/10, WM 2011, 1956, 1957 Rn. 7; BGH, Urteil vom 16. Dezember 2009 – VIII ZR 38/09, NJW 2010, 858 Rn. 15, jeweils mwN).


Zu Recht nimmt das Berufungsgericht an, dass die Einfriedung eines Hausgrundstücks Kaufinteressenten regelmäßig den Eindruck vermittelt, es handle sich um ein einheitliches, nach außen abgeschlossenes Grundstück. Dieser Eindruck wurde hier dadurch verstärkt, dass nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in der der Klägerin von dem Beklagten zu 2 zur Verfügung gestellten Objekt- und Lagebeschreibung ausdrücklich auf die Umfriedung des Grundstücks mit Zaun und Eingangstor hingewiesen wurde. Unter diesen Umständen waren die Beklagten verpflichtet, einem Irrtum der Klägerin durch Aufklärung über den tatsächlichen Grenzverlauf vorzubeugen.


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2. Ihre Pflicht zur Aufklärung haben die Beklagten nicht dadurch erfüllt, dass der Beklagte zu 2 der Klägerin die erbetenen Finanzierungsunterlagen, die für die Bank benötigt wurden, sowie einen Ordner überlassen hat, in dem sich neben dem Exposé und diversen anderen Unterlagen Lagepläne des Grundstücks befunden haben. Mit der Übergabe von Unterlagen erfüllt ein Verkäufer seine Aufklärungspflicht nur dann, wenn er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer die Unterlagen nicht nur zum Zweck allgemeiner Information, sondern unter einem bestimmten Gesichtspunkt gezielt durchsehen wird. Solche Umstände liegen etwa vor, wenn der Verkäufer dem Käufer im Zusammenhang mit möglichen Mängeln ein Sachverständigengutachten überreicht (Senat, Urteil vom 12. November 2010 - V ZR 181/09, NJW 2011, 1280 Rn. 11).


Ein verständiger und redlicher Verkäufer kann dagegen nicht erwarten, dass ein Käufer Finanzierungsunterlagen oder einen ihm übergebenen Ordner mit Unterlagen zu dem Kaufobjekt darauf durchsieht, ob in die Einfriedung des Grundstücks möglicherweise fremder Grund einbezogen wurde. Dies gilt hier umso mehr, als die Klägerin aufgrund des ausdrücklichen Hinweises in der Objekt- und Lagebeschreibung auf die Umfriedung des Grundstücks mit Zaun und Eingangstor ersichtlich keinen Grund für die Annahme hatte, dass in diese Teile des Nachbargrundstücks einbezogen sein könnten, und sie daher erkennbar auch keinen Anlass hatte, die Frage des Grenzverlaufs einer näheren Prüfung zu unterziehen.


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3. Rechtsfehlerhaft nimmt das Berufungsgericht an, unabhängig von der Frage der Erfüllung der Aufklärungspflicht scheide eine Haftung der Beklagten jedenfalls deswegen aus, weil aufgrund der Übergabe des Ordners, der neben zahlreichen anderen Unterlagen auch einen Lageplan des Grundstücks enthalten habe, kein arglistiges Verhalten der Beklagten festgestellt werden könne.


Auf die Frage, ob die Beklagten arglistig gehandelt haben, kommt es nicht an. Denn es geht hier nicht um Verhaltenspflichten der Beklagten im Zusammenhang mit der Beschaffenheit der Kaufsache. Zur Beschaffenheit des verkauften Grundstücks Fl.-Nr. 275 gehört es nicht, dass es sich auch auf Teile des Nachbargrundstücks Fl.-Nr. 274 erstreckt. Dies könnte auch nicht Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung sein; vielmehr legte eine solche Vereinbarung den Kaufgegenstand selbst und nicht lediglich dessen Beschaffenheit fest (vgl. zu einem solchen Sachverhalt Senat, Urteil vom 18. Januar 2008 - V ZR 174/06, NJW 2008, 1658). Da der Sachbereich der §§ 434 ff. BGB somit nicht betroffen ist, kann uneingeschränkt auf die Grundsätze des Verschuldens bei Vertragsschluss zurückgegriffen werden (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 26. Januar 1996 - V ZR 42/94, NJW-RR 1996, 690).


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Unabhängig davon hat das Berufungsgericht fehlerhaft den subjektiven Tatbestand der Arglist der Beklagten verneint. Eine arglistige Verletzung der Aufklärungspflicht liegt dann vor, wenn der Beklagte zu 2, dessen Verhalten sich die Beklagte zu 1 gemäß § 278 BGB zurechnen lassen muss, gewusst oder zumindest damit gerechnet und billigend in Kauf genommen hat, dass die Klägerin keine Kenntnis von den tatsächlichen Grundstücksgrenzen hatte (Senat, Urteil vom 26. Januar 1996 ­ V ZR 42/94, NJW-RR 1996, 690). Zwar trägt die Klägerin die Darlegungs- und Beweislast auch für den subjektiven Tatbestand der Arglist. Da es sich bei der unterbliebenen Aufklärung aber um eine negative Tatsache handelt, kommen ihr Erleichterungen nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast zugute. Daher ist es Sache der Beklagten, diejenigen Umstände in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Weise zu konkretisieren, aufgrund deren sie von einer Kenntnis der Klägerin über die tatsächlichen Grundstückverhältnisse ausgegangen sein wollen (Senat, Urteil vom 12. November 2010 – V ZR 181/09, BGHZ 188, 43, 48 Rn. 15).


Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts rechtfertigen die von den Beklagten vorgetragenen Umstände nicht deren Annahme, die Klägerin sei über den tatsächlichen Grenzverlauf im Bilde gewesen. Wie bereits ausgeführt, durfte ein verständiger und redlicher Verkäufer nicht davon ausgehen, mit der Übergabe von Finanzierungsunterlagen sowie eines Ordners mit verschiedensten Unterlagen der Klägerin die erforderliche Kenntnis über die von der Einfriedung des Grundstücks abweichenden Grundstücksgrenzen verschafft zu haben.


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4. Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif, da das Berufungsgericht offen gelassen hat, ob die Beklagten ihre Aufklärungspflicht – wie sie behaupten – durch einen ausdrücklichen mündlichen Hinweis auf den tatsächlichen Grenzverlauf erfüllt haben. Die Klärung dieser Frage ist vom Berufungsgericht nachzuholen. Daher ist das Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).


Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: Bejaht das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen Verschuldens bei Vertragsschluss, so ist als zu ersetzender Schaden nicht die Differenz zwischen dem Wert des Grundstücks mit und ohne Vorgarten anzusetzen. Denn der zum Nachbargrundstück gehörende Vorgartenbereich ist nicht Gegenstand des Kaufvertrages. Vielmehr ist der Betrag maßgeblich, um den die Klägerin wegen der unterlassenen Aufklärung das verkaufte Grundstück zu teuer erworben hat. Sie ist also so zu behandeln, als wäre es ihr bei Kenntnis der wahren Sachlage gelungen, den Kaufvertrag zu einem günstigeren Kaufpreis abzuschließen; dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Beklagten mit einem niedrigeren – objektiv angemessenen – Kaufpreis einverstanden erklärt hätten (Senat, Urteil vom 6. April 2001 - V ZR 394/99, NJW 2001, 2875, 2877 mwN). Das Berufungsgericht wird daher zu prüfen haben, ob und in welcher Höhe der Klägerin über die Kosten eines eventuellen Rückbaus des Vorgartens hinaus ein weiterer Schaden entstanden ist.


BGH, Urteil vom 11. November 2011

- V ZR 245/10 -


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